Das mach ich doch mit links

Artikel von Celine Lauer in der BERLINER MORGENPOST, WELT und WELT KOMPAKT vom 13.08.2010

„Berliner Therapeutin schult Menschen zurück, die zur Rechtshändigkeit gezwungen wurden.

Mit der falschen Hand bereitet alles Probleme – selbst Kaffeetrinken. Das Umrühren wird zum ungelenken Rumeiern in der Tasse. Wer einmal verletzungsbedingt alles Manuelle mit seiner schwächeren Seite verrichten muss, stößt im Alltag schnell an seine Grenzen. Einfachste Griffe werden zur Last, beim Zähneputzen, Bügeln, Suppe essen – und natürlich beim Schreiben. Es fühlt sich einfach falsch an.

Viele Menschen würden es nicht einmal einen Tag durchhalten, Marina Neumann lebte fast fünf Jahrzehnte lang damit. Sie war eine unterdrückte Linkshänderin: Ein Mensch, der gemäß seiner Veranlagung eigentlich Linkshänder ist, aber dennoch zum Rechtshänder erzogen wurde, weil Lehrer und Eltern darauf drängten, „nur das gute Händchen“ zu benutzen. Die Berliner Psychotherapeutin verstand erst mit 47 Jahren, weshalb ihr selbst kleinste Tätigkeiten anstrengend und schwierig erschienen: Sie benutzte schlicht die falsche Hand.

Inzwischen führt die 58-Jährige eine Beratungsstelle, wo sie auf Rechtshändigkeit umgeschulte Menschen berät und zu Linkshändern zurückschult. Heute ist für sie ein besonderer Feiertag: Der 35. Internationale Weltlinkshändertag, der von dem US-Amerikaner Dean R. Campbell initiiert wurde, um auf die Rechte von Linkshändern aufmerksam zu machen. „Linkshänder sind jahrhundertlang unterdrückt worden und mussten nahezu alle Tätigkeiten mit rechts erlernen“, sagt Neumann. Sie weiß genau, wie sich das anfühlt. Als Vorschulkind malte sie noch mit links, doch in der Grundschule begann der Krampf: Die Lehrerin zwang sie, den Griffel mit rechts zu halten. Schreiben lernen fiel ihr schwer, die Noten in Schönschrift waren mies, Hausaufgaben machte sie ungern. „Mir war einfach der Spaß abhanden gekommen“, sagt Neumann.

Heute wissen Mediziner und Therapeuten, dass umgeschulte Linkshänder viel Energie und Konzentration aufwenden müssen, um permanent die nichtdominante Hand zu benutzen. Das Gehirn wird enorm strapaziert, um den Mangel an Kraft, Ausdauer und motorischem Geschick auszugleichen und ähnlich präzise Leistungen wie mit der dominanten Hand zu erbringen. In Neumanns Grundschulzeit wusste das aber noch niemand, und so schenkte man ihrem Unwohlsein keine Beachtung. Stattdessen bekam das Mädchen Stubenarrest, weil es mit rechts den Füller so stark aufs Papier drückte, dass die Füllfedern zersprangen.

Die Händigkeit beeinflusst die Persönlichkeit und das Leben eines Menschen in der Schule, im Privatleben und sogar bei der Berufswahl. Umso fatalere Folgen kann die Umschulung auf rechts für die Psyche haben. Unterdrückte Linkshänder sind oft ausgebrannt oder resigniert, sie leiden an Depressionen, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen. Gerade bei Kindern machen sich zudem Leserechtschreib- oder Rechenschwächen bemerkbar.

In ihrer Schulzeit blieb Marina Neumann stets unter ihrem Leistungsniveau, und auf dem Gymnasium sackten ihre Leistungen ab – nicht, weil sie den Stoff nicht verstand, sondern weil ihr die Umsetzung so schwer fiel. Die Teenagerin fühlte sich oft überfordert und ermüdete schnell. Auch bei ihrem Hobby, dem Geigespielen, denn „als Linkshänderin hält man den Bogen mit rechts ganz verkrampft“.

Nach ihrem Abitur hätte die junge Frau gerne einen künstlerischen Beruf ergriffen, schreckte davor aber zurück – so, wie dies auch heute noch viele Betroffene tun. Denn Linkshänder sind eher von der rechten Gehirnhälfte geprägt, wo auch die Kreativität sitzt. Unterdrückte Linkshändigkeit kann den Zugang zur rechten Gehirnhälfte fast völlig blockieren. Unterdrückte Linkshänder können deshalb ihre Stärken oft nicht entfalten und wählen einen Beruf, der nicht zu ihrer kreativen Veranlagung passt.

So auch Marina Neumann. Sie studierte Psychologie, dann arbeitete sie als Therapeutin – immer mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte, stets auf der Suche nach der Ursache. Dann stieß sie durch Zufall auf das Buch „Der umgeschulte Linkshänder oder der Knoten im Gehirn“ von Johanna B. Sattler – und war überwältigt: „Plötzlich hielt ich den Schlüssel für meine Probleme in den Händen. Dieses Buch hat mein Leben verändert.“

Die Psychotherapeutin entschloss sich zur autodidaktischen Rückschulung. Dreh- und Angelpunkt dieser Umstellung war das Schreiben, da der Mensch hierbei feinmotorisch und mental stark gefordert ist. Marina Neumann griff also – mit links – zum Stift und fing an, einfache Zeichnungen nachzumalen: Kringel, Schleifen, Achten. „Schon bei den ersten Nachspurübungen empfand ich Freude und das Gefühl, mich selbst gefunden zu haben“, beschreibt sie und lächelt. „Ich hatte den Eindruck: Das bin ja ich.“

Bei ihren Rückschulungen lässt Neumann ihre Patienten mit ebensolchen Methoden langsam wieder zu ihrer natürlichen Veranlagung zurückfinden; die rechte Hand wird dabei „behutsam aus dem Verkehr gezogen“. Für viele sei die Umstellung eine große Befreiung, gerade Erwachsene reagierten sehr emotional. „Viele von ihnen weinen“, sagt die Therapeutin. Und welchen Moment empfand sie bei ihrer eigenen Rückschulung als bewegend? „Als ich Monate nach meiner Umstellung meinen neuen Personalausweis unterschrieb“ – natürlich mit links.

https://www.welt.de/vermischtes/article8969718/Wenn-sich-rechts-ein-Leben-lang-falsch-anfuehlt.html