„Nimm doch das gute Händchen“

Die Darstellung einer meiner Rückschulungsgruppen von Jan Rosenkranz
in der Wochenzeitung Freitag 33 vom 10.08.2001

Es gibt mehr heimliche Linkshänder als wir denken. Ehemals auf rechte Leitkultur getrimmt, schreiten sie jetzt zur Emanzipation. Nimm doch das gute Händchen!
Er hat es doch genau gesehen. Wie der schon geht – forsch aber ungelenk. Glasklar wurde es dann beim Fernsehinterview. Da hat der ein Fußballspiel kommentiert und dabei wild gestikuliert. Locker, leicht, leger wirbelte die Hand, der ganze Arm – der linke. Auch wenn der bei offiziellen Reden im Bundestag oder auf Staatsbesuch mit der Rechten herumfuchtelt – das ist doch einstudiert. Und als Manfred dann die kleine Meldung in der Zeitung las, also da war ja wohl alles klar. Der tanzt nicht, weil er den Rhythmus nicht halten kann. Eindeutig: Bundeskanzler Gerhard Schröder ist ein umgeschulter Linkshänder. Der Gerd, genau wie er. Nicht, dass es ihn adeln würde, den Mann in der weißen Leinenhose und dem kurzärmeligen Netzhemd, etwas mit dem Kanzler gemein zu haben. Er will ja nur sagen, wie weit das Phänomen verbreitet ist, wie vielen es erging wie ihm: Als Linkshänder geboren, zum Rechtshänder erzogen.

Krachend schlug das Lineal auf die Knöchel der „falschen Hand“

An die Zeit der Erziehung erinnern sich Umgeschulte oft nur mit Schrecken, denn für viele war es eine Zeit der Demütigung, in der man Linkshändigkeit hauptsächlich als pathologisches Problem behandelte, in der Linkshändern suggeriert wurde, nicht ganz „richtig“ zu sein, „behindert“ irgendwie. „Nimm doch das gute Händchen.“ Diesen Satz mussten ganze Generationen linksorientierter Kinder ertragen. Und spätestens, wenn krachend das Lineal auf die Knöchel der „falschen“ Hand schlug, sie mit Tüchern umwickelte oder am Stuhl festband, legte sich die Lust zur Linken.

Bei Manfred war es ein Kleiderbügel. Er hatte es völlig verdrängt, bis er vor Jahren zufällig in der Zeitung las, wie ein umgeschulter Linkshänder genau seine Symptome beschrieb. Litt er nicht auch an Konzentrationsschwäche und Gedächtnislücken? Hatte er nicht auch irgendwann resigniert und sich stattdessen als Kasperkopp profiliert? Er war ja nicht dumm, aber in der Schule oft der Langsamste. Auch die Versagensängste, die Furcht andere zu enttäuschen, waren ihm vertraut. Er litt darunter, keine eigene Identität zu besitzen. Er war wie eine Amöbe, ohne feste Konturen und jedem Widerstand ausweichend. Ständig wechselte er den Job, arbeitete immer unter Wert, mal als Aushilfe im Copyshop, dann als Bauhelfer. Auch als Yoga-Lehrer hielt er nicht lange durch. Nach drei Jahren schmiss er es wieder hin. Da war ständig diese Angst, Angst vor jeder Stunde, die ständige Angst zu versagen. Mit anderen Worten: Die Folgen der Umschulung brachten Manfred handfeste psychische Probleme. Irgendwann hat er es dann einfach mal probiert mit der Linken. Es fühlte sich gut an.
Litt er nicht auch an Konzentrationsschwäche und Gedächtnislücken?

Die Münchener Psychologin Barbara Sattler bezeichnet die Umschulung als den „massivsten unblutigen Eingriff“ ins menschliche Hirn. Inzwischen dürfen Lehrer zumindest ausgeprägte Linkshänder nicht mehr zum Gebrauch der Rechten anhalten – schon gar nicht mit Gewalt. Denn die Wahl der Hand ist nichts weniger als Ausdruck der motorischen Dominanz der kontralateralen Gehirnhälfte, insbesondere einer funktionalen Aktivierung des kontralateralen primär-motorischen Kortex, Area 4. Sagt die Wissenschaft. Dominiert die linke Gehirnhälfte die rechte, wird´s ein Rechtshänder, dominiert die rechte Hälfte die linke, wird´s ein Linkshänder – immer über kreuz. Sagt die Populärwissenschaft.

Während Rechtshänder vor allem logische und analytische Denkprozesse beherrschen und oft über das größere Wissen verfügen, denken Linkshänder ganzheitlich, kreativ und phantasievoll und haben diesen gewissen Hang zum Genie. So die Klischees. Die sind zwar nicht ganz falsch, doch so schlicht funktioniert unser Gehirn nun auch wieder nicht. Vielmehr kooperieren beide Hälften auf reichlich komplexe Weise miteinander. Durch die Umschulung wird diese Kommunikation empfindlich gestört: Die Übermittlungsprozesse im Corpus Callosum, der Brücke zwischen beiden Hirnhälften, geraten ins Stocken. Die linke Hemisphäre wird überlastet, die rechte gehemmt. Was folgt, nennt Sattler den berühmten „Knoten im Hirn“.
„Deshalb verkümmern die meisten umgeschulten Linkshänder emotional“, sagt Marina Neumann. Sie sitzt auf einem weißen Kissen, auf einem weißen Teppich, in einem weißen Raum und weiß, wovon sie spricht. Auch sie war Pseudo-Rechtshänderin. Bis sie sich rückgeschult hat. Das fühlte sich gut an. Seitdem geht es ihr besser, blendend wie nie zuvor. Seit Anfang des Jahres leitet Marina Neumann deshalb einen Rückschulungskurs, dessen urlaubsdezimierte Reste ebenfalls auf weißen Kissen thronen: Manfred und Horst. Einmal pro Woche treffen sie sich, hier in dieser Altbauwohnung, hauptsächlich um zu reden. Normalerweise sind sie zu siebt. Am Anfang haben sie auch die Schreibübungen gemeinsam gemacht. Mit dem Stift in der linken Hand sind sie über das Papier gefahren, immer entlang der vorgezeichneten Kurven, Kringel und Achten. Danach haben sie wieder geredet, wie sich das so anfühlt. Jetzt übt jeder für sich und so oft und so lange er mag. „Es geht nach dem Lustprinzip“, sagt Neumann, „hier soll ja kein neuer Zwang entstehen.“

Er wedelt er mit dem linken Arm und sagt stolz: „Das bin ich.“

Manfred ist vorsichtiger geworden mit den Schreibübungen. Er sagt, dass es ihm zu heftig wurde. Momentan bevorzugt er linke Gebrauchstests. Zum Beispiel beim Brotschneiden: „Wenn ich mich dabei ertappe, wie ich das Messer in der Rechten halte, sage ich mir, halt, du nimmst jetzt das Messer in die Linke und guckst, was passiert.“ Eigentlich passiert immer dasselbe. „Egal wie unsicher der Schnitt ist, ich fühle, dass es aus mir herauskommt.“ Rechts, das sei sein Roboterarm, gut angelernt zwar, aber doch nur Hilfsarbeiter. Dann wedelt er mit dem linken Arm und sagt stolz: „Das bin ich.“

Ganz behutsam und langsam müsse man vorgehen, warnt Neumann, nicht wie sie, die sich damals im Urlaub in nur drei Wochen rückschulen wollte. Erst war sie ganz glücklich, danach war sie krank. Sie hat es alleine geschafft, aber sie ist auch Psychotherapeutin. Anderen rät sie davon ab, sich ohne professionelle Begleitung rückzuorientieren. Das geht nämlich nicht links-zwo-drei-vier, im Gegenteil, das dauert – in der Regel zwischen zwei und drei Jahren. „Es geht ja nicht nur ums Schreiben, es geht um viel mehr“, sagt sie nachdrücklich und erzählt von Problemen, die entstehen können. Bis dahin Verdrängtes taucht plötzlich wieder auf, nicht nur Angenehmes wie Kreativität und Phantasie, auch die Erinnerungen an die Umschulung kommen wieder – die Wut, weil man hilflos der Demütigung ausgesetzt war. Jemand aus der Gruppe, er arbeitet als Lieferant, wollte zu schnell zu viel und hat darum geübt und geübt. Jetzt leidet er unter Desorientierung. Blöd für ihn, denn jetzt verfährt er sich ständig. „Aber das wird sich geben. Es dauert eben“, sagt Neumann.

Es fühlt sich gut an.

Die versprochenen Früchte lassen so manche Mühe vergessen: ein besseres, angenehmeres, ein zufriedeneres Leben und das Gefühl, endlich unerreichbar geglaubte Potenziale nutzen zu können. Das kann sehr vieles ändern, weil falsche Kompromisse brechen, weil neues Selbstbewusstsein wächst. Manche wechseln den Beruf, Partnerschaften gehen in die Brüche. „Der Sinn dieses Kurses ist: das Trauma aufzulösen“, sagt Marina Neumann.

Viele umgeschulte Linkshänder leiden unter einem Trauma. Doch in der psychologischen Theorie kommt verhinderte Linkshändigkeit als Ursache psychischer Probleme kaum vor. Der Psychologe bemerkt zwar, dass sein Patient ein Problem hat, ein massives, er kann es aber nicht benennen. Und so liegen Tausende umgeschulte Linkshänder auf der Psycho-Couch, grübeln über Ödipus und Paranoia, werden arm therapiert – doch ihr eigentliches Problem ist schlicht nicht gelöst. Dank ihrer eigenen Erfahrungen konnte Psychotherapeutin Neumann „ganz viele Klienten outen“ und zur Diagnose schicken. Und die kamen dann in die Praxis zurück: Linkshänder, Linkshänder, Linkshänder.

Im Berliner Osten betreibt Hannelore Pester ein privates Institut für Lateralitätsforschung und eine Linkshänderberatungsstelle. Weil es nicht viele davon gibt, reisen Menschen für ihre Diagnose aus ganz Europa an. Frau Doktor empfängt im weißen Kittel des Berufstandes. Selbstverständlich ist sie Linkshänderin. Auch sie rät dringend davon ab, auf eigene Faust am eigenen Hirn herumzuexperimentieren. „So einfach ist das nicht“, sagt Hannelore Pester. Denn wenn sich grundsätzlich alles um die bevorzugte Hirnhälfte dreht, dann ist die bevorzugte Hand nur das sichtbarste Indiz dafür. Probleme tauchen auf, wenn diese Dominanz in die eine oder andere Richtung nur schwach entwickelt ist. Und das ist weit öfter der Fall, als man glaubt. Eine verlässliche Diagnose kann deshalb bis zu drei Stunden dauern. Computertest, Hörtest, Sehtest, Greiftest, Schreibtest – eine wahre Testbatterie prasselt auf die Patienten nieder. Sogar die Schokoladenseite kann verräterisch sein – die mimisch aktivere Gesichtshälfte. Und manchmal müssen die Patienten durch Frau Pesters Praxis hüpfen. Tricksen geht nicht, denn Linkshänder springen meist mit dem rechten Bein. Das linke brauchen sie zum Balancieren.

Bei Erwachsenen fällt die Diagnose schwerer, denn in einer Welt, die von Rechtshändern für Rechtshänder erschaffen wurde, passen sich die meisten linksveranlagten Menschen an. Nur ausgeprägte Linkshänder können sich der vorherrschenden „rechten Leitkultur“ widersetzen. Davon gibt es hierzulande höchstens zehn Prozent. Wie hoch die Dunkelziffer ist, zeigt das Beispiel USA. Dort stieg der Anteil der „Lefties“ seit der Linkenhatz der dreißiger Jahre inzwischen wieder auf über 25 Prozent.

Es gibt sie. Sie sind überall. Sie leben gut getarnt, diese Pseudo-Rechtshänder, doch. Horst erkennt sie. Vor allem in der Behördenkantine, wo sie ihre Suppe mit links in den Mund löffeln. Und neuerdings enttarnt auch Manfred – überall. Allein in seinem Stammlokal hat er schon mindestens fünf geoutet. „Wildfremde Leute, sie sagen zwei Sätze. Ich denk mir, kommt mir doch bekannt vor“, sagt er und rückt sich das Kissen zurecht. „Da habe ich nachgefragt und dann kam raus, tatsächlich, umgeschult.“

Am 13. August ist internationaler Linkshändertag. Weitere Hinweise unter www.linkshaenderseite.de

Bekannte Linkshänder:

Muhammed Ali, Alexander der Große, Ludwig van Beethoven, David Bowie,
Julius Cäsar, Enrico Caruso, Fidel Castro, Charlie Chaplin, Kurt Cobain,
Marie Curie, Bob Dylan, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Albert
Einstein, Queen Elisabeth II, Caspar David Friedrich, Friedrich II, Bill
Gates, Mahatma Gandhi, Uri Geller, Heinrich Heine, Jimi Hendrix, Wolfgang
Joop, Franz Kafka, Karl der Große, Klaus Kinski, Paul Klee, Käthe
Kollwitz, Detlev Lücke, Michelangelo, Paul McCartney, Marylin Monroe,
Wolfgang Amadeus Mozart, Napoleon Bonaparte, Niccolo Paganini, Isaac
Newton, Friedrich Nietzsche, Pablo Picasso, Pele, Sergej Rachmaninow,
Ramses II, John D. Rockefeller, Julia Roberts, Peter Paul Rubens, Albert
Schweitzer, Mark Twain, Peter Ustinov.

Marina Neumann